Multimodalität als verkehrspolitisches Antidepressivum

Ein gestandener Münchner Verkehrsplaner sitzt bei einer frischen Maß im Biergarten und sinniert: Eine kompakte Siedlungsstruktur orientiert sich am Netz leistungsfähiger Linien des Öffentlichen Verkehrs. Eine gute Durchmischung sorgt für kurze Wege, die für Rad- und Fußverkehr attraktiv sind. Der Öffentliche Verkehr hat die nötige Dichte, um ein Angebot auf höchstem Niveau wirtschaftlich zu betreiben. Der Radverkehr bekommt den nötigen Platz. Er wird weitgehend auf der Straße und direkt geführt. Die Schnittstellen zwischen Individualverkehr und Öffentlichem Verkehr an den Randbereichen der urbanen Gebiete sind gut geschmiert. Bike-and-Ride-, aber auch Park-and-Ride-Angebote werden in ausreichendem Maße und barrierefrei zur Verfügung gestellt. Der nicht vermeid- und verlagerbare Kfz-Verkehr wird effizient abgewickelt. Eine flächendeckende Parkraumbewirtschaftung setzt in Verbindung mit dem hochqualitativen Angebot aus Öffentlichem Verkehr und Radverkehr einen starken Anreiz, Autopendler aus den innerstädtischen Gebieten fernzuhalten.

 
 

In einem Gebäude der Baugenossenschaft Wogeno im Münchner Domagkpark integriert können Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers  E-Carsharingfahrzeuge, E-Scooter, Pedelecs und E-lastenräder ausleihen. Der Stellplatzschlüssel liegt bei 0,5. Es können dadurch mehr und günstigere Wohnungen angeboten werden. Dennoch sind in der Tiefgarage Stellplätze frei, die Besucher über den Parksharingdienst ParkU spontan nutzen können. An der Oberfläche sorgt das Parkraummanagement dafür, dass niemand länger als zwei Stunden parken kann. Der Strom wird lokal solar auf dem Dach produziert und über einen Zwischenspeicher zum Laden der Fahrzeuge bereit gestellt.
In einem Gebäude der Baugenossenschaft Wogeno im Münchner Domagkpark integriert können Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers E-Carsharingfahrzeuge, E-Scooter, Pedelecs und E-lastenräder ausleihen. Der Stellplatzschlüssel liegt bei 0,5. Es können dadurch mehr und günstigere Wohnungen angeboten werden. Dennoch sind in der Tiefgarage Stellplätze frei, die Besucher über den Parksharingdienst ParkU spontan nutzen können. An der Oberfläche sorgt das Parkraummanagement dafür, dass niemand länger als zwei Stunden parken kann. Der Strom wird lokal solar auf dem Dach produziert und über einen Zwischenspeicher zum Laden der Fahrzeuge bereit gestellt.

 

Der Öffentliche Verkehr positioniert sich strategisch als multimodaler Mobilitätsdienstleister. Er kooperiert eng mit Bikesharing- und Carsharing-Anbietern oder bietet die Dienste für die letzte Meile gleich selbst an. Um die neue Multimodalität erlebbar zu machen, werden an attraktiven ÖV-Haltepunkten Mobilitätsstationen gebaut. Auch die virtuelle Komponente, die tatsächlich alle Mobilitätsangebote, z.B. auch Fahrgemeinschaftsvermittlungsdienste, umfasst, wird von den ÖV-Anbietern entwickelt und betrieben. Sie bieten Information, Anmeldung, Buchung, Nutzung und Abrechnung aus einer Hand, selbstverständlich für mobile Kommunikation optimiert.

Privater Fahrzeugbesitz wird in urbanen Räumen weitgehend überflüssig, denn auch automobile Mobilität ist jederzeit als Sharing-Angebot verfügbar. Es können mehr und günstigere Wohnungen mit einem geringeren Stellplatzschlüssel von 0,2 – 0,5 gebaut werden. Im öffentlichen Straßenraum werden Stellplätze frei, und ihre Flächen werden anderen Nutzungen zugeführt. Der öffentliche Raum gewinnt an Attraktivität. Unterm Strich gibt es mehr Mobilität und Lebensqualität bei geringeren verkehrsbedingten Belastungen. Ein flächendeckendes System von Straßenbenutzungsgebühren erlaubt es, den Straßenverkehr sozial und ökologisch gerecht, sowie räumlich und zeitlich fein gestaffelt zu steuern. Gewinne werden in das oben geschilderte Mobilitätssystem gesteckt und ein Beitrag zur Finanzierung des Umweltverbundes geleistet. Steuerliche Förderungen des Pendelns werden abgeschafft, wie z.B. die Pendlerpauschale oder die Förderung von Dienstwagen. Es entsteht eine neue Mobilitätskultur! Und wenn dann das autonome Fahren mit emissionsfreien, kleinen öffentlichen Einheiten kommt, gibt es gar keine privaten Kfz und keine Probleme mehr…

Die harte Realität…

Ausgerechnet, wo die erste Maß geleert ist, gesellt sich ein weiterer Verkehrsplaner dazu und holt den träumenden Kollegen auf den Boden der Tatsachen zurück: Sie beide, so seine These, würden eine durchsetzungsfähige Regionalplanung, einen schnellen und massiven Ausbau des Öffentlichen Verkehrs und alles, was mit Straßenbenutzungsgebühren und den Abbau von Steuervorteilen für den Pkw zu tun hat, wohl nicht mehr erleben. Dabei ersticke München an seinem Wachstum. Die Smart Mobility sei nur Augenwischerei und würde lediglich als verkehrspolitische Spielwiese von den Kernaufgaben ablenken. Um München herum würde das Fernstraßennetz ausgebaut und neuen Verkehr in die Stadt spülen. In der Stadt seien weitere Straßentunnels in Planung. Ein Gericht nach dem anderen stellte fest, dass die Stickoxidwerte in München zu hoch sind. Und das autonome Fahren, das funktioniere im urbanen Raum doch nie. Und schließlich ginge es doch gar nicht um Mobilität, sondern um Industriepolitik. Danach versinkt er in Depression.

Ein bisserl was geht immer…

Multimodalität zum Anfassen. In unmittelbarer Nähe zum ÖPNV-Knoten Münchner Freiheit wurden 10 Kurzzeitstellplätze per Sondernutzungsgenehmigung in eine Mobilitätsstation umgewandelt, mit insgesamt 6 Carsharingfahrzeugen und 20 öffentlichen Leihfahrrädern der MVG. Zwei Carsharinfahrzeuge können an der Ladesäule Strom tanken. Hinzu kommt eine Informationsstele und (nicht im Bild) ein Taxistandplatz."

Nicht so der Münchner. Er bestellt sich eine zweite Maß und legt einen Artikel der Münchner Abendzeitung vom 16. Juli 2015 auf den Tisch. Überschrift: „Schafft Eure Autos ab!“ Daneben ein Interview mit einem führenden BMW-Manager, der eben dies fordert, und die Abbildung eines i3 Elektro-Carsharing-Fahrzeugs der Firma Drive Now. Er will den Kollegen ein bisschen aufzumuntern: Die Zeiten ändern sich! Es wächst eine Generation heran, denen ein eigenes Auto nicht mehr so wichtig ist. Die mobile Kommunikation eröffnet viele neue Möglichkeiten. Die Automobil-Industrie ändert ihre Strategie. Sie verkauft nicht mehr nur Autos, sondern bietet Sharing-Systeme an. Allein in München gibt es mittlerweile über 100.000 Carsharing-Kunden! Die Stadt München hat auch das neue flexible One-Way-Carsharing unabhängig evaluieren lassen. Ergebnis: Ein Fahrzeug ersetzt drei bis fünf private Fahrzeuge, wenn das Carsharing in ein Gesamtkonzept zur Umwandlung der frei werdenden Stellplätze eingebettet ist. In Kürze kommt das lang erwartete Carsharing-Gesetz, das es erlaubt, die Fahrzeuge auf die Straße zu stellen. Bis dahin behilft man sich mit Sondernutzungsgenehmigungen.

Auch der Öffentliche Verkehr positioniert sich strategisch neu und sieht sich als Kernanbieter eines umfassenden multimodalen Angebots. Die Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) betreibt multimodale Mobilitätsstationen an wichtigen ÖV-Knotenpunkten, wie z. B. der Münchner Freiheit. Zwölf weitere sind bereits geplant. Gleichzeitig entwickelt sie mit der App „MVG More“ das virtuelle multimodale Gegenstück, mit dem man problemlos mobil alle Alternativen zum Privatauto finden und nutzen kann. Die Verwaltung arbeitet an einem Gesamtkonzept für Carsharing, Bikesharing und Mobilitätsstationen und integriert die neuen Themen in die Parkraumbewirtschaftung. Es ist geplant, diese auch räumlich zu erweitern. Wohnbauinvestoren gehen auf die Stadt zu und offerieren mehr und günstigere Wohnungen, wenn sie weniger Stellplätze bauen müssen. Dafür bieten sie ihren Bewohnern integrierte moderne Mobilitätskonzepte an, so wie soeben im Domagkpark geschehen. Mit dem Kommunikationsprogramm „München – Gscheid Mobil“ werden systematisch wichtige gesellschaftliche Gruppen gezielt über die Möglichkeiten nachhaltiger Mobilität informiert und motiviert, auf ein eigenes Auto zu verzichten oder es wenigstens ab und zu stehen zu lassen.

Der Fahrradverkehr ist das mit weitem Abstand am stärksten wachsende Verkehrsmittel: über 70 % Wachstum in den letzten zehn Jahren! Die vielbeachtete Radlhauptstadt-Kampagne zur Förderung des Radverkehrs wurde unbefristet mit einem Budget von 800.000 Euro pro Jahr als Dauermaßnahme zur Förderung des Radverkehrs mit den Mitteln des Marketings ausgestattet (www.radlhauptstadt.de). Deutschlandweit über eine Million verkaufte Pedelecs und E-Bikes erweitern den Anwendungsbereich des Fahrradfahrens massiv, sowohl was Einzugsbereiche und Geschwindigkeiten angeht, als auch was neue Zielgruppen betrifft. Planungen für Fahrradschnellwege aus der Region in die Stadt werden vorangetrieben. Längst ist das Fahrradrouting auch in die Region in die elektronische Fahrplanauskunft des Münchner Verkehrs- und Tarifverbunds (MVV) integriert. Die Schnittstelle „Bike-and-Ride“ wird vor diesem Hintergrund als Verknüpfung des Öffentlichen Verkehrs mit dem flachen Land in der Region immer wichtiger. Und – vielleicht das Wichtigste – in Ermangelung durchsetzungsstarker Planungsinstrumente gibt es neue Kommunikationskonzepte einerseits zwischen den Stakeholdern – wie z. B. die Inzell-Initiative – und anderseits zwischen Stadt und Land – wie die regionalen Verkehrskonferenzen, auf welchen ohne Vorbehalte und auf Augenhöhe Lösungen herausgearbeitet werden und die spätere politische Umsetzung vorbereitet wird.

„Und außerdem“, flüstert der Münchner beim letzten Schluck, „glaube ich, dass die zweite S-Bahn-Stammstrecke und die Straßenbahn-Westtangente tatsächlich bald kommen werden. Das ist zwar nicht die reine Lehre, aber ein bisserl was geht schließlich immer!“


Dr. Martin Schreiner
Leiter „Stragegische Projekte und Grundsatzangelegenheiten“ bei der Landeshauptstadt München.